"Hoheit über Zahlen verloren" Illegale Migration nimmt zu - Grenzschützer kritisieren Faeser

Stand: 31.10.2022 | Lesedauer: 4 Minuten

Von

Wolfgang Büscher,

Alexander Dinger

Die Bundespolizei erhält seit Anfang September keinen Überblick mehr über die Gesamtlage der unerlaubten Grenzübertritte. Die Polizeigewerkschaft wirft Innenministerin Faeser vor, die "Hoheit über die Zahlen" verloren zu haben. Die Union warnt vor einer "Geisterfahrt". Der Vize-Fraktionschef der SPD, Dirk Wiese, befürchtet, dass die Stimmung gegenüber Geflüchteten kippen könnte. Aktuell suchen viele Menschen Schutz in Deutschland. Immer mehr Kommunen geraten an ihre Kapazitätsgrenze, wissen nicht, wie sie die Menschen noch unterbringen sollen.
Quelle: WELT / Viktoria Schulte

Polizeigewerkschaft und Opposition werfen Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vor, nicht über die tatsächliche Lage an den deutschen Grenzen zu informieren. Sie sind verärgert, weil ein interner Report der Bundespolizei zur illegalen Einwanderung nicht mehr veröffentlicht wird. Der "Migrationsanalyse Bericht" soll Beamten an den Grenzen einen Überblick zu unerlaubten Grenzübertritten geben. Seit 2018 wird er monatlich ins Intranet der Bundespolizei gestellt, im Oktober aber plötzlich nicht mehr.

Auf Anfrage von WELT AM SONNTAG teilte die Bundespolizei mit, dass die Zahl der "festgestellten unerlaubten Einreisen nach Deutschland" seit Juni 2022 "außerhalb der statistischen und saisonalen Schwankungen" erkennbar zunehme. Im September wurden demnach 12.701 Einreisen festgestellt. Das sind fast 50 Prozent mehr als im August (8846) und fast doppelt so viele wie in den Sommermonaten Juni (6667) und Juli (6941). Gekommen seien hauptsächlich Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan.

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Dass der Bericht für September nicht wie üblich Anfang des Folgemonats veröffentlicht wurde, sorgt für Unmut bei Bundespolizisten an den Grenzen. Das Papier enthält neben den jeweils aktuellen Zahlen und Migrationsrouten auch Lagebilder und besondere Beobachtungen beispielsweise zu bevorzugten Transportmitteln - Informationen, die für Behörden- und Einsatzleiter vor Ort wichtig sind.

In Berlin und Potsdam reagiert man wortkarg. Das Bundespolizeipräsidium erklärte auf Anfrage, die Behörde äußere sich nicht zu internen Arbeitsprozessen. Das Innenministerium teilte mit, interne Berichte der Bundespolizei richteten sich generell nach den "Erfordernissen und Bedarfen" und dienten allein der internen Kommunikation.

Das Vorgehen wird scharf kritisiert. Der Chef der Bundespolizeigewerkschaft, Heiko Teggatz, wirft der Bundesinnenministerin vor, ausgerechnet auf dem augenblicklichen Höhepunkt der illegalen Einreisen "die Hoheit über die Zahlen" verloren zu haben. Die Vizevorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Andrea Lindholz, spricht von "Intransparenz von Frau Faeser" und einer "migrationspolitischen Geisterfahrt der Ampel".

"Man hat den Eindruck, man will kein Problem haben"

Lindholz will den Vorfall in den Innenausschuss einbringen und hat am Donnerstag eine Anfrage dazu ans Bundeskanzleramt gestellt: Warum, fragt sie, wurde der Überblick über das aktuelle Migrationsgeschehen "seit Anfang September 2022 nicht mehr aktualisiert?" Sie möchte zudem wissen, wie die Dienststellenleiter der Bundespolizei nun "einen verlässlichen Überblick über das bundesweite Migrationsgeschehen" erhielten?

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Angesichts des starken Anstiegs illegaler Einreisen, sagte Lindholz dieser Zeitung, "brauchen die Behörden und speziell die Bundespolizei mehr Analysen und Berichte und nicht weniger". Die Begründung des Ministeriums dafür, den Bericht ausgerechnet jetzt den Bundespolizisten nicht mehr bereitzustellen, wirke "einfach absurd". Gewerkschafter Teggatz sagte, der August, dem der letzte Bericht im September galt, "war der Monat, als die Zahlen hochgingen. Im Oktober erschien kein solcher Bericht mehr. Man hat den Eindruck, man will kein Problem haben. Auch wenn es da ist, soll es keiner sehen." Das Aussetzen des Berichts bedeute, "die Bundesbehörden, die Bundestagsabgeordneten, die Einsatzführer der Bundespolizei, wir alle haben den Überblick über die Migration verloren".

Erste Städte und Gemeinden an der Grenze könnten keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, berichtet Lindholz aus Gesprächen mit Bürgermeistern. "Was Frau Faeser sagt, stimmt nicht mit den Berichten überein, die wir aus den Grenzregionen bekommen", so Lindholz. Polizeigewerkschafter Teggatz sagte, man sei "mittendrin in einer Lage wie 2015". Der Unterschied sei nur, dass damals viele Menschen "in einer riesigen Karawane" gleichzeitig kamen. "In diesem Herbst verteilt es sich auf viele kleinere Gruppen."

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Innenministerium und Bundespolizei bestreiten das. Der Anstieg irregulärer Zuwanderung sei spürbar, aber nicht mit 2015/16 vergleichbar, teilte Faesers Haus mit. Die Bundespolizei erklärte: "Die derzeitigen Feststellungszahlen der unerlaubten Einreise liegen aktuell deutlich unter denen vom Herbst 2015."

Zum Vergleich: Für 2015 wies die Polizeiliche Kriminalstatistik 153.668 unerlaubt eingereiste Personen aus. Angesichts nur punktueller Grenzkontrollen bilden diese Zahlen die damalige Lage aber kaum ab. 2015 wurden rund eine Million Asylanträge gestellt. 2022 kamen bisher fast eine Million Ukrainer ins Land.

Während das Innenministerium keine Lage wie vor sieben Jahren sieht, weil Ukrainer als legale Kriegsflüchtlinge angesehen werden, weisen Kritiker jedoch darauf hin, dass die Gesamtzahl an Flüchtlingen eine Belastung ähnlich zu der von 2015 darstellt.


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